BECAUSE IT MATTERS

Sonntag, 4. Dezember 2016 | |


Es sind wohl solche Schlagwörter, die Aufmerksamkeit wecken. Wahrscheinlich sind es gerade diese Wörter, die eine blitzschnelle Reaktion erfordern. Hinhören? Weghören? Diese Frage stellte sich mir nicht, als wir – stimmungsgerecht begleitet von kaltem Nieselregen – aus dem Bus steigen. Ich frage mich, ob es an diesem Ort sonnige Tage gibt. Wolkenlose Stunden. Es würde sich wahrscheinlich falsch anfühlen, an einem Tag unter blitzblauem Himmel Geschichten wie jene zu hören. Da war diese Frau, sie wohnte mit ihrer Familie nur einige Meter vom Steinbruch entfernt. Der Geschichtenerzähler mit brauner Aktentasche und ein paar wenigen Falten auf der Stirn las die Anzeige vor, die sie damals an die Polizeidienststelle verfasste. Sie schrieb von „unzumutbarem Lärm“ den man ihr, einer betagten, gebrechlichen Frau, nicht zumuten könne. Sie schrieb von ihrem Wunsch einer Mauer, damit sie es nicht mitansehen müsse. Unverständnis. Pures Unverständnis empfinde ich. „Egoistisch“, „auf den eigenen Vorteil bedacht“, schoss mir durch den Kopf.
Diese Schlagwörter, auf welche ich bereits die ganze Zeit angespielt habe, heißen „Konzentrationslager“. Heißen „Mauthausen“. Während der Geschichtenerzähler weiter und weiter erzählt, beschreibt, anregt, versuche ich zu verstehen. Zum Beispiel diese Frau. Oder diesen Bauern, der ebenfalls unweit des Lagers wohnte und einzig seine eigenen Vorteile im Blick hatte. Oder all diese Menschen, die bei einem Fußballspiel jubelten während dahinter hunderte Gefangene einem grausamen Tod in die Augen schauten. Die Zahl wurde am Vortag festgelegt.
Sechshundertdreiundsechzig. Minus sechshundert. Eins, zwei, drei, vier, fünf… dreiundsechzig. Dieser Wille, dieses Klammern an eine Hoffnung, die eigentlich nur mehr in der Fantasie existiert, erstaunt mich am Allermeisten. Ich versuche, zu verstehen und bin doch kläglich daran gescheitert. Ich versuche, mich hineinzuversetzen, in das Gefühl der Enge, der Angst, der Ungewissheit. Und scheitere. In diesen Momenten ist alles so nah und doch bin ich so weit weg von all diesen Schicksalen. Es sollte mir doch nahe gehen, denke ich, während wir in dem Waschraum, in welchem die Häftlinge kahl geschoren wurden, stehen. Das Einzige, was mich in diesem Moment bewegt, ist pures Unverständnis. Es begleitet mich die ganze Zeit. Jeden einzelnen Schritt, den ich auf diesem Platz mache, fühlt sich an wie Trampeln. An einem Ort, an dem ich durch Schreie meiner Hilflosigkeit Ausdruck verleihen möchte, ist alles von ehrfürchtiger Stille geprägt.
Die tausend weißen Buchstaben auf schwarzem Boden ergeben Namen. Hinter jedem dieser Namen steckt eine Identität, eine Geschichte. Mein Blick fällt immer wieder auf einzelne Namen und wieder komme ich der Versuchung nahe, in meinen Gedanken ein Kopfkino spielen zu lassen. Als ich es verdrängen will, mischen sich viele Gedanken dazu. War es genau diese Verdrängung einer wahren Vorstellung, die viele Beteiligte dazu verleitet hat, narzisstisch zu handeln?
Der wohl beste Satz fällt am Ende, vor den offenen Toren einer geschlossenen Geschichte. „Die Beschäftigung mit der Vergangenheit gibt uns die Macht, unsere Zukunft beeinflussen zu können."

ad: Ein gutes Jahr ist es her, dass ich mit meiner Klasse Mauthausen besucht habe. Damals schrieb ich auch diesen Text für den Geschichte Unterricht. Er erschien mir immer zu trist, um ihn auf meinem Blog zu veröffentlichen. Dieser Tage kam er mir allerdings wieder ins Gedächtnis. Heute ist der zweite Adventsonntag und Wahltag für Österreich. Es erschien mir passend, diesen Text heute online zu stellen. Denn sich an die Vergangenheit zu erinnern, ist kein Übel, sich an die Vergangenheit zu klammern, jedoch schon.

1 Kommentar:

  1. Super geschrieben meine Liebe und du hast Recht mit deinem letzten Satz. ♥

    Viele liebe Grüße,
    Dani www.daninanaa.com

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